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Margret R.:
  
Mein Jahr in England
Eine Erinnerung an das
Jahr 1935/36



Es war einer der heißesten Tage des Jahres 1935, Mitte Juli, als ich in Victoria Station aus dem Zug stieg und Mrs Carter, die in Ihrem Brief einen sehr freundlichen Eindruck gemacht hatte, zum ersten Mal zu Gesicht bekam.

Sehr viel wusste ich nicht über sie. Nur dass sie Witwe war, Anfang dreißig, also etwa zehn Jahre älter als ich, und aus einer sehr guten Familie stammte, die in der Londoner High Society ihren Platz hatte. Von ihrem Familienvermögen war nicht viel übrig geblieben, so dass sie nicht wie die meisten ihrer Freunde auf einem Landsitz residierte. Aber sie war eine echte Lady. Darüber konnte kein Zweifel bestehen, meine Freundin hatte es oft genug betont, und ich hielt es mir vor Augen, als sie mich begrüßte, denn - ehrlich gesagt - war ich bei ihrem Anblick schockiert!

Sicher, es war ein heißer Tag, aber selbst bei diesen Temperaturen hatte ich nie gesehen, dass in Deutschland eine Dame, die auf sich hielt, derart leger gekleidet herumlief: Mrs Carter trug ein dünnes ärmelloses Kleid, keinen Hut, keine Jacke, nur dieses halblange Kleid, das gerade über die Knie ging. Sie war keine schöne Frau, knochig und flachbrüstig, und mit ihren kurzen Haaren und dem flachen Gesicht ein sehr herber Typ, was durch ihren Aufzug noch betont wurde. Was jedoch das Stärkste war und mich wirklich misstrauisch machte, war die Tatsache, dass sie keine Strümpfe trug! In der Öffentlichkeit, im Zentrum der Hauptstadt keine Strümpfe! In Deutschland schlichtweg undenkbar.

Mit mulmigem Gefühl stieg ich in ihren Wagen, einen alten Chevrolet, den sie selbst steuerte. Was würde mich erwarten im Haus dieser "Dame"?

Sehr bald merkte ich jedoch, dass meine wilden Befürchtungen im Auto meiner jugendlichen Unerfahrenheit zuzuschreiben waren. Mrs Carter war wunderbar. Herzlich und ohne jeden Dünkel - sie nahm mich auf wie eine Tochter des Hauses. Ihre lockere unverkrampfte Art drückte sich in ihrem ganzen Verhalten, nicht nur in ihrer Kleidung aus. "I'm Violet!" hatte sie mich bereits am Bahnhof freundlich korrigiert, als ich sie in deutscher Wohlerzogenheit mit "Mrs Carter" angesprochen hatte. Unsere Beziehung war von Anfang an sehr harmonisch. In kameradschaftlicher Eintracht erledigten wir den Haushalt zusammen und bei meinen anfänglichen Machtkämpfen mit Alaister, ihrem sechsjährigen Sohn, stärkte sie mir den Rücken.

Ihn zu betreuen, wenn sie Verpflichtungen außer Haus hatte, war meine Hauptaufgabe. Anfangs hatte er sich mir gegenüber sehr brav verhalten und ich war recht angetan von dem hübschen blonden Jungen mit den blauen Augen. Nach und nach aber musste ich feststellen, dass er ein richtiger Lausebengel wurde, ungezogen und frech. Ganz offensichtlich wollte er ausprobieren, wie weit er gehen konnte bei der neuen Deutschen: Wer war der Stärkere, er oder ich?

Einmal, als er sich weigerte mir zu gehorchen, weil ich ja nur das "Dienstmädchen" sei, gab ich ihm einen Klaps, was ihn dermaßen schockierte, dass er in lautes Heulen ausbrach. Wie bei einer Sirene schwoll sein Gejammer an. Vielleicht konnte er mich ja auf die Art kleinkriegen. Mein Schlag jedenfalls war viel zu leicht gewesen, als dass Schmerz der Grund für ein derartiges Geschrei hätte sein können. Ich merkte, wie die Wut in mir aufstieg, es war Zeit ein für alle Mal die Situation zwischen uns zu klären: "Hör sofort auf zu heulen", befahl ich, "Sonst bekommst du einen richtigen Schlag!" Ich zeigte ihm drohend meine geballte Faust. Das saß. Mit ungläubig geweiteten Augen starrte er mich an, aus seinem offenen Mund drang kein Laut mehr.

Sobald sie nach Hause gekommen war, rannte er zu seiner Mutter, um sich - untermalt von neuen Tränen - über mich zu beschweren. Zu seiner Verblüffung war Violet jedoch ganz meiner Meinung und kündigte plötzlich sogar an, ihm selbst noch eine runterzuhauen, wenn er nicht endlch mit dem Geplärre aufhörte.

Von diesem Moment an respektierte er mich. Eine Weile später schob er zögernd seine Hand zu mir herüber und sah mich scheu von der Seite an. Natürlich konnte ich ihm da nicht länger böse sein. Ich nahm seine Hand, und wir beschlossen, dass so etwas jetzt nicht mehr vorkommen würde und wir gute Freunde sein wollten. Was wir von da an auch waren.



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