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Inge W.:
  
Hälfte des Lebens
Autobiografie




Wird die Staumauer gesprengt?


Der Krieg würde nicht mehr lange dauern. Die Amerikaner waren auf dem Vormarsch. Von Vater hatten wir keine Nachricht. Er war an der Ostfront gewesen, wir wussten nicht, ob er noch lebte oder ob er in Gefangenschaft geraten war. Doch das war nicht die einzige Sorge, die uns bedrückte.

Seit ein paar Tagen herrschte auch überall im Ort große Aufregung. Es hieß, die Staumauer der Aggertalsperre ein paar Kilometer weiter solle gesprengt werden. Über diese Mauer führte eine Straße und die Sprengung war einer der letzten hilflosen Versuche, die Amerikaner aufzuhalten. Die Straßen würden unpassierbar werden, eine Flutwelle würde das ganze unterhalb der Mauer gelegene Tal überschwemmen und das hieß zuerst und mit größter Gewalt - Derschlag, unseren Heimatort.

Wenn es zur Sprengung kam, konnte man höchstens noch das nackte Leben retten. Unser Ort, unsere Gärten, unsere Häuser - alles würde zerstört werden. Eine Möglichkeit, die Katastrophe unbeschadet zu überstehen, gab es nicht.

Mutter verbrachte eine schlaflose Nacht. Sie war allein mit uns Kindern. Niemand würde ihr helfen. Was war, wenn es nachts passierte? Hörte man erst einmal die Sirenen, konnte es nur noch Minuten dauern, bis die Wassermassen da waren. In dieser Zeit musste sie uns wecken, anziehen, mit uns die Agger durchwaten, die mit starker Strömung hinter unserem Haus floss, und dann den steilen Hang am anderen Ufer erklimmen. Denn das war das Einzige, was man tun konnte, sich auf eine Höhe retten! Ich war zehn, aber Margitta, meine kleine Schwester, war erst vier und Rudi noch ein Baby.

Am anderen Morgen stand ihr Entschluss fest: Wir würden zu ihrer Mutter ziehen etwa zwölf Kilometer von uns entfernt oberhalb der Talsperre, und zwar mit Sack und Pack. Es war nicht einfach, den Fuhrunternehmer, einer der wenigen, die noch ein Pferd besaßen, zu erweichen. Gerne machte er es nicht, vielleicht fürchtete er, die Mauer würde in die Luft fliegen, wenn wir gerade darüber fuhren. Aber wir taten ihm leid und außerdem winkte Bezahlung.

Fieberhaft begannen wir die wichtigsten Haushaltsgegenstände zusammenzupacken, damit wir - sollte es tatsächlich zur Sprengung kommen, wenigstens nicht völlig mittellos zurückblieben. Wenig später stand er mit seinem Fuhrwerk vor der Tür und half uns, Herd, Kochtöpfe, Waschmaschine, Betten, Wäsche und Kleider aufzuladen. Die Nachbarn nahmen den Schlüssel in Obhut und sahen uns wehmütig nach: Wir hatten einen Zufluchtsort gefunden. Unsere Gefühle waren gemischt. Würden wir unser Haus je wieder bewohnen können? Fraglich - selbst wenn das Wasser nicht kam: Sollte bekannt werden, dass es leer stand, konnte es beschlagnahmt und mit Flüchtlingen belegt werden. Aber für solche Überlegungen war es nun zu spät.

Wir kamen nur langsam vorwärts, überall waren deutsche Soldaten auf dem Rückzug, voller Hast und Eile. Sie hatten Angst, in Gefangenschaft zu geraten, doch wo sollten sie hin? Als es den Berg hinaufging, mussten wir absteigen. Das Pferd war alt und schaffte schon so kaum den Aufstieg. Ich musste den Kinderwagen mit meinem Brüderchen schieben. Erleichtert ließen wir die Staumauer hinter uns und dann - nach Stunden - war es geschafft. Wir waren bei meiner Großmutter angekommen.

Alles wurde abgeladen, zum Teil im Stall bei den zwei Ziegen, vor denen ich Angst hatte. Dort war auch die Toilette und jedes Mal, wenn man sie aufsuchte, musste man an diesen unberechenbaren Tieren vorbei. Ich gewöhnte mich nicht daran, in dieser bangen Woche, die wir ohne Nachricht von zu Hause hier auf dem Dorf verbrachten, wie abgeschieden von der Welt.

Dann kam eines Tages ein Bauer aus dem Nachbarort angerannt. "Die Amerikaner sind da! Sie haben unser Dorf niedergebrannt!" - Wir hatten den Rauch gesehen und uns schon schlimme Gedanken gemacht. Das also war es gewesen! Angst überfiel die Frauen und uns Kinder und wir bedrängten ihn mit Fragen. Als er sich ein wenig beruhigt hatte, erzählte er, dass sich ein paar deutsche Soldaten in einem Keller versteckt gehalten hatten. Von den Amerikanern entdeckt, hatte einer von ihnen geschossen, worauf die Amis wutentbrannt das Dorf angezündet und die Soldaten gefangen genommen hatten.

Wenig später waren sie auch bei uns. Feindliche Panzer und Wagen. Schwarze Amerikaner! Nie zuvor hatte ich einen Farbigen gesehen. Aber - welche Überraschung - sie waren sehr freundlich! Zu uns Kindern jedenfalls. Sie gaben uns Schokolade und Kaugummis, die wir nicht kannten. Und sie hatten selber Angst. In gebückter Haltung durchsuchten sie jedes Haus und jeden Keller, die Waffe im Anschlag. Doch deutsche Soldaten fanden sie bei uns keine mehr.

Der Krieg war zu Ende!

Wie mochte unser Leben jetzt weitergehen? Und was war mit der Sperrmauer passiert? War sie gesprengt worden? Lag Derschlag in Trümmern oder hatten wir Glück gehabt?


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